Formen der Selbstorganisation, wo auch immer in der Gesellschaft, beinhalten produktive und inhaltliche Willensbekundungen der sich organisierenden Personen und damit potenziell Richtung weisende Formen von Basisdemokratie. Sie enthalten stets zweierlei: den Anspruch auf Selbstbestimmung und Mitbestimmung sowie inhaltliche Zielangaben. Selbsthilfeinitiativen sind in ihren Variationen Formen der Basisdemokratie im Gesundheits- und Sozialbereich; sie konnten im Laufe von 6 Jahrzehnten maßgeblich zur Demokratisierung und innovativen Qualifizierung des Gesundheits- und Sozialbereichs beitragen.

Nach der Auflösung  bzw. Gleichschaltung von selbst organisierten Gruppen/Organisationen während des NS-Zeit hat sich danach ein differenziertes Spektrum solcher Gruppen entwickelt: Zuerst bildeten sich primär im Gesundheitsbereich ab 1947 Selbsthilfegruppen, in denen Betroffene als Ergebnisse ihrer auf Gegenseitigkeit aufbauenden Kommunikationsprozess selbsthilfespezifische, nicht professionalisierbare Leistungen erarbeiteten, z. B. psychische Stabilisierung, konkrete Hilfen für ein Leben mit chronischen Krankheiten/Behinderungen und auch für den Umgang mit Professionellen.  Indikationsbezogene Selbsthilfeorganisationen verbesserten mittels der – gesellschaftsüblichen –  Methode der Lobbyarbeit kontinuierlich die rechtlichen Leistungsansprüche und damit die Lebenslage der Betroffenen. Deshalb bezeichne ich diese Gruppen als traditionell.

Im Kontext der Studentenbewegung haben sich ab 1970 zwar auch im Gesundheitsbereich, aber insbesondere im Sozialbereich zahlreiche alternative Selbsthilfegruppen und alternative selbst organisierte Projekte (insgesamt weit über 5000) entwickelt. Mit dem Wort alternativ bezeichne ich diese Gruppen, weil sie die professionelle Arbeit in Theorie und Praxis frontal angriffen und grundsätzlich verändern wollten. Sie kritisierten die hierarchischen Strukturen, die (rechtlich abgesicherte) Allmacht der Fachkräfte und die Entpersönlichung der betroffenen Menschen (Patienten/Klienten); sie übernahmen – wie übrigens auch die anderen sozialen Bewegungen – die Programmatik der Studentenbewegung und forderten für Patienten/Klienten Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Mitwirkung ein. Und: die alternativen Gruppen setzten ihre Leitvorstellungen auch erfolgreich und modellhaft in ihren Projekten mit bewundernswertem Engagement um. Auch damals wurde bereits der vielfache Missbrauch in Einrichtungen angeprangert, aber tot geschwiegen.

Sowohl die traditionellen als auch die alternativen Selbsthilfeinitiativen blieben nicht in den ihnen zugedachten Gruppenghettos. Wie die anderen sozialen Bewegungen in ihren Gegenstandsbereichen so haben die Selbsthilfeinitiativen den Gesundheits- und Sozialbereich auf der Handlungsebene durch ihre inhaltlichen, feldbezogenen Innovationen und auf der gesellschaftlichen Ebene durch die Durchsetzung von Selbstbestimmungs-, Mitbestimmungs- und Mitwirkungsrechten nachhaltig verändert (seit dem KJHG 1991). Anders ausgedrückt: Die Arbeit in den diversen Gruppenformen hat eine die Gruppen überschreitende bis in die Gesellschaft hineinreichende Dynamik entfaltet und grundlegende Reformen auf der Handlungs- und der Rechtsebene bewirkt. Die weit überwiegende Mehrzahl der Fachkräfte und die meisten Verbände im Gesundheits- und Sozialbereich wollten insbesondere mit den selbst organisierten alternativen „Schmuddelkindern“, die sie als Einschränkung und Bedrohung empfanden, nichts zu tun haben. Auch die meisten Ausbildungsstätten ignorierten dieses facettenreiche Lernfeld Selbstorganisation, zum Teil bis heute. Viele Wissenschaftler, aber auch öffentliche Institutionen, insbesondere die Bundesregierung erkannten jedoch die in den Selbsthilfeinitiativen und ihren Innovationen schlummernden Potenziale; letztere sorgte schließlich auf der Grundlage des 8. Jugendberichts 1991 mit dem KJHG und von da an in der weiteren Ausgestaltung des Sozialgesetzbuches für die erforderlichen rechtlichen Grundlagen. Wesentliche Teile der Basisarbeit der Gruppen sind also durch Transformationsprozesse auf  Dauer in die Strukturen der Gesellschaft eingegangen. Das Ergebnis der Arbeit der Selbsthilfeinitiativen fasse ich folgendermaßen zusammen:

  • „Die Selbsthilfezusammenschlüsse stellen die Leitbilder Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Mitwirkung sowie die Fähigkeiten der von gesundheitlichen und/oder sozialen Problemen Betroffenen in den Mittelpunkt ihrer Arbeit; auf dieser Grundlage haben sie zusätzlich zu den für ihre Teilnehmer erbrachten Verbesserungen der Lebenslagen mit ihrem Betroffenenwissen für andere Betroffene durch Erfahrung bewährte Ratschläge bzw. Empfehlungen verfügbar gemacht und primär im Sozialbereich grundlegende teils feldspezifische teils Feld übergreifende Handlungsansätze entwickelt, die inzwischen aus grundsätzlichen Erwägungen und wegen ihrer Wirksamkeit in das methodische Standardrepertoire eingegangen sind.
  • Mit diesen Leistungen haben die Selbsthilfezusammenschlüsse als die treibenden Kräfte entscheidend zur Demokratisierung und Modernisierung des Sozial- und Gesundheitsbereichs beigetragen. Der Gesetzgeber hat sich die Forderungen der Selbsthilfezusammenschlüsse – Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Mitwirkung in sozialen und gesundheitlichen Fragen – auch  aufgrund der hierzu einschlägigen Fachliteratur zu eigen gemacht; er hat die Förderung von Selbsthilfegruppen als Sollnorm einerseits und Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Mitwirkung als Rechte der Patienten/Nutzer sowie als verbindliche Vorgaben für Fachkräfte andererseits im Sozialgesetzbuch verankert – zu wesentlichen Teilen zunächst gegen den Willen und den passiven Widerstand der in den Einrichtungen agierenden Fachkräfte.
  • Damit ist in den Rechtsnormen des Sozialgesetzbuchs auch ein neues Paradigma für die Berufe des Sozial- und Gesundheitsbereichs festgeschrieben, das als Balance zwischen auf Fachwissen basierter professioneller Handlungsvollmacht einerseits und individueller Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Mitwirkung der Patienten/Nutzer andererseits beschrieben werden kann“ (Engelhardt: Leitbild Menschenwürde – wie Selbsthilfeinitiativen den Gesundheits- und Sozialbereich demokratisieren, Campus Verlag, Frankfurt 2011, S. 15).

Letztlich ist es den Selbsthilfeinitiativen, einer winzigen Minderheit, gelungen, ihre eigenen Handlungsgrundsätze mithilfe der Bundesregierung als Gesetzgeber für alle verbindlich zu machen. Die Bundesregierung hat auf diese Weise mit vierzigjähriger Verspätung die individuellen Selbstbestimmungsansprüche der Verfassung im Gesundheits- und Sozialbereich in geltendes Recht umgesetzt.   

Dr. Hans Dietrich Engelhardt, Prof. für Soziologie und soziale Arbeit i.R., Fachbereich Soziale Arbeit der Fachhochschule München (jetzt: Fakultät für angewandte Sozialwissenschaften, Hochschule München). Arbeitsschwerpunkte: seit 1980 Selbsthilfe und Selbstorganisation sowie Organisationsentwicklung und seit 1990 Qualitätsmanagement, jeweils in Lehre, Praxis und Forschung mit einschlägigen Veröffentlichungen.