Einer einfachen Definition zufolge, bezeichnet Subsidiarität ein Prinzip, nach dem Tätigkeiten privater Organisationen Vorrang haben vor staatlichen Aktivitäten, wenn es um soziale Belange geht. Es regelt also das Verhältnis zwischen Verbänden der freien Wohlfahrtspflege einerseits und der staatlichen Wohlfahrtspflege anderseits. Diese technische Beschreibung des Subsidiaritätskonzepts gewinnt erst an Bedeutung, wenn die politische Dimension mitgedacht wird. Es stellt sich also die Frage: Wessen Interessen werden durch das Subsidiaritätsprinzip eigentlich vertreten?
Ein Blick auf die deutschen Wohlfahrtsverbände zeigt, dass es einige, wenige Verbände sind, die den Handlungsvorrang gewährt bekommen. In einem Nachschlagewerk ist von staatlich lizenzierten Spitzenverbänden die Rede. Gemeint sind damit Caritas, Diakonie, der Paritätische, Deutsches Rotes Kreuz u. a. Die ursprüngliche Idee, dass sich die Zivilbevölkerung bzw. die Gemeinde individuell, selbstbestimmt und eigenverantwortlich um die eigenen sozialen Belange kümmert, hat sich also in Form einiger Sozialkonzerne manifestiert. Aus dieser Perspektive kommen viele kleine Träger kaum zum Zug; und Initiativen und Träger aus migrantischen Reihen schon gar nicht.
Die migrantischen Communities trifft dieser Sachverhalt auf zweifache Weise. Zum einen als Anbieterseite, als Vereins- oder Verbandsgründer, zum anderen als Klientel der sozialen Dienste. Obwohl gut vier Millionen Muslime in Deutschland leben, und Migrant_innen und deren Nachfolgegeneration in vielen Städten mehr als ein Drittel der Bevölkerung ausmachen, hat sich aus diesen Reihen keine nennenswerte Selbstorganisation gebildet. Es gibt zwar vereinzelt kleine Träger, aber nur wenige professionelle Vereine und Verbände auf höherer Ebene schon gar nicht. Sie haben keinen nennenswerten Anteil an dem Markt der Wohlfahrtspflege. Man muss von einem Markt sprechen, wenn man sich die Zahlen im Bereich der christlichen Wohlfahrtspflege ansieht: Der Deutsche Caritasverband und das Diakonische Werk sind in den vergangenen Jahrzehnten zum weltweit größten privaten Arbeitgeberverbund aufgestiegen. Im Bereich der christlichen Wohlfahrtspflege werden bei etwa 1,5 Millionen Beschäftigten jährlich rund 45 Milliarden Euro umgesetzt, heißt es in einer Sonderausgabe von Ver.di 2005. Die Arbeit der Wohlfahrtsverbände sei weit über 90 Prozent aus staatlichen Mitteln bzw. den Sozialversicherungen finanziert. Die Pfründe der subsidiären Verteilung öffentlicher Gelder bleiben also an den großen, größtenteils christlich-konfessionellen Verbänden hängen und landen zu allerletzt, wenn überhaupt, auch mal in migrantischer Trägerschaft.
Für diejenigen, die die sozialen Dienste in Anspruch nehmen, wäre es ein großer Unterschied, wenn neben dem christlichen Pflegedienst auch ein muslimischer Pflegedienst bereitstünde. Gerade im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe, der Integration und Altenpflege steht die Wohlfahrtspflege vor einer immer größeren migrantischen Klientel. Neben Fachlichkeit spielen da vor allem interkulturelle Kompetenzen, Sprachenkenntnisse und das biografische Verstehen eine tragende Rolle. Was liegt da näher als eine Professionalisierung der Selbstorganisation von migrantischen Trägern, Vereinen und Verbänden? Was liegt näher als die Senioren mit Migrationsgeschichte aus dem Stadtteil zu organisieren und ihr spezifisches Know-How und Kompetenzen für die vielfältigen Bedürfnisse und Problemlagen einzusetzen?
Manch ein Staatsbürger mag die Verantwortung für den Mangel an professionell tätigen migrantischen Vereinen weit von sich schieben. Sollen sie doch machen. Es hindert sie doch keiner! Mittlerweile wissen wir aber, dass es soziale Barrieren gibt, die sich nicht dadurch auszeichnen, dass sie jemand hinstellt, um andere zu hindern, sondern dass sie niemand wegstellt, um den Weg für andere zu ebnen. Diese Barrieren zu beseitigen hieße bestimmte Gruppen zu befähigen, sich zu organisieren und zu professionalisieren, sie besonders und bedarfsgerecht zu fördern und ihnen beratend zur Seite stehen, fehlende Kontakte herzustellen, Beziehungen zu knüpfen und sie zu vernetzen und zwar nicht nur horizontal, sondern vor allem vertikal mit Verwaltung und Politik.
Wenn der Subsidiaritätsdiskurs eines neuen Inputs bedarf, dann sicherlich in Bezug auf das Thema Wohlfahrtspflege von und für Migranten. Die Tatsache, dass wir in einer Migrationsgesellschaft leben und Migranten einen Großteil der Zivilgesellschaft konstituieren, muss in Bezug auf die Ausgestaltung und Funktion des Subsidiaritätsprinzips eine zentrale Rolle spielen. Eine Zivilbevölkerung, die in hohem Maße migrantisch ist, muss sich auch in der Struktur der sozialen Träger-, Vereins- und Verbandslandschaft widerspiegeln.
Tunay Önder, Soziologin M. A. ist freie Mitarbeiterin am Münchner Institut Zweiplus | Beratung Entwicklung Evaluation, stellvertretende Vorsitzende im Tscherkessischem Kulturverein München e.V. und Gründerin des Blogprojekts migrantenstadl (www.dasmigrantenstadl.blogspot.de).