„Hurra die Jungs verblöden, für sie bezahlt das Jugendamt – hurra die Jungs verblöden, für sie bezahlt der Staat!“ Diesen Spruch habe ich von einer guten langjährigen Freundin, die in den 1970er Jahren als Psychologiestudentin den Feminismus für sich entdeckt hat, um in Frankfurt am Main während der 1980er Jahre in kleiner freier Trägerschaft eine Zuflucht für missbrauchte und misshandelte Mädchen zu eröffnen. Den Spruch aber, hat sie bereits 1959 von einer koedukativen Ferienfreizeit des Bezirksamtes Lichterfelde/Westberlin auf der Wannseeinsel Schwanenwerder mitgebracht und als bleibende Lebenserinnerung aufbewahrt. Es handelte sich offenbar um den Refrain eines dieser Zeltlagerlieder, mit dem die frechen kleinen Mädels die mehr oder minder großen Jungs provozierten. Kokett deutet die gute alte Freundin ihre Reminiszenz als frühe Einsicht in die Überlegenheit ihres Geschlechtes, was mich aber eher weniger interessiert. Haben sie dieses Liedchen etwa selbst gedichtet, womöglich unter der Anleitung einer früh berufenen Studentin der Sozialarbeit, oder stammt es aus einer Liedersammlung für Lagerfeuer-Romantik – wie auch immer, das ist nicht mehr zu ermitteln, auch das world wide web führt unter dem Refraintext allenfalls zu unflätigen Auseinandersetzungen distanzloser Menschen in diversen sozialen Netzwerken …  Einen „Minderbemittelten-Zuschuss“ konnten freie Träger für ihre Ferienfreizeiten  jedenfalls noch in den 1970er Jahren beim Jugendamt in Frankfurt abrechnen. Setzt das Lied womöglich die finanzielle Minderbemittlung in eins mit einer geistigen? Zweifellos drückt es eine deutliche Verachtung für den Empfänger staatlicher Geldzuwendungen aus, womit wir endlich beim Thema angelangt wären. Der Begriff des Subsidiaritätsprinzips entstammt im Kontext des Sozialwesens der katholischen Soziallehre, 1931 unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise definiert von ihrem „Nestor“ Oswald von Nell-Breuning für die Sozialenzyklika „Quadragesimo anno“ des Papstes Pius des XI.:   

„Wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen; jedwede Gesellschaftstätigkeit ist ja ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär; sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen.“  

Nachdem der Nationalsozialismus die Glieder des Sozialkörpers  bis hinunter zum Einzelmenschen zerschlagen oder aufgesaugt hatte, wurde in der Bundesrepublik das Prinzip der subsidiären (helfenden/unterstützenden) Funktion der jeweilig übergeordneten Gliederungen des Gemeinwesens  gegenüber den nachgeordneten im Bundessozialhilfegesetz (BSHG) und im Jugendwohlfahrtsgesetz (JWG) gesetzlich fixiert.

„Die Träger der Sozialhilfe sollen darauf hinwirken, dass die zur Gewährung geeigneten Einrichtungen ausreichend zur Verfügung stehen. Sie sollen eigene Einrichtungen nicht neu schaffen, soweit die in § 10 Abs. 2 genannten Träger der Freien Wohlfahrtspflege vorhanden sind, ausgebaut oder geschaffen werden können.“
Bundessozialhilfegesetz: § 93 BSHG (zitiert nach Wikipedia “Subsidiarität)

„Soweit geeignete Einrichtungen und Veranstaltungen der Freien Jugendhilfe vorhanden sind, erweitert oder geschaffen werden, ist von eigenen Einrichtungen und Veranstaltungen des Jugendamtes abzusehen.“
Jugendwohlfahrtsgesetz: § 5 JWG (zitiert nach Wikipedia “Subsidiarität)

Die von den Nazis zerschlagenen oder aufgesaugten Jugend- und Wohlfahrtsverbände gründeten sich wieder oder neu und sorgten im Fall der Jugendverbände auf allen staatlichen Ebenen (Stadt/Kreis, Land, Bund) im Rahmen von sog. Jugendringen in Kooperation mit den kommunalen Ämtern und staatlichen Ministerien für die Aufteilung von Aufgaben und Ressourcen. In Eigenhilfe und öffentlicher Förderung bauen sie ihre verbandlichen Jugendfreizeit oder -ferienheime neu oder wieder auf.

In Frankfurt am Main entstehen bis 1967 in Trägerschaft des städtischen Vereins „Häuser der offenen Tür“ 10 offene Jugendhäuser, die sich mit ihren Angeboten v. a. an diejenigen Jugendlichen richten, die keiner Jugendorganisation angehören, oder auch an die Verbände, die nicht über eigene Vereinsheime verfügen. Mithilfe von Spenden christlicher amerikanischer Gruppen werden Nachbarschaftsheime aufgebaut, die, dem angelsächsischen Community-Konzept folgend, generationsübergreifend ausgerichtet sind.

Abgesehen von den Halbstarkenkrawallen in München und Berlin oder Rockerbanden-Schlägereien in Frankfurt am Main Ende der 1950er Jahre geht es im Wirkungsbereich des Jugendwohlfahrtsgesetzes in der Nachkriegsrepublik bis zum Ausbruch der Jugendrevolte ab 1967/68 relativ friedfertig zu. Rückblickend erscheint uns die Nachkriegsordnung in diesem Zusammenhang immer als friedhofsruhige Sozialpartnerschaft mit allenfalls vorübergehenden kleinen Proporzkonflikten zwischen den Beteiligten des Korporationskartells. Dennoch lesen wir heute von einem Subsidiaritätsstreit der 1960er Jahre zwischen überwiegend sozialdemokratisch geführten Ländern und Kommunen einerseits und dem CDU-Staat andererseits, der erst 1967 durch ein Verfassungsgerichtsurteil  beigelegt wird. In diesem Streit wehrten sich die Kommunen gegen eine Einschränkung ihres Selbstbestimmungsrechtes durch die konfessionellen Wohlfahrtsverbände bei Anwendung des Subsidiaritätsprinzips, welches übrigens im BSHG nicht explizit genannt ist und auch in der Verfassung erst 2009 mit Bezug auf die Kompetenzabgrenzung zwischen Europäischer Union und Nationalstaaten Erwähnung findet.

Jener „Subsidiaritätsstreit“ scheint im SGB VIII von 1990 schließlich beigelegt.  In § 3 SGB VIII werden sogar gemeinnützige und andere Träger gleichgestellt: „Die Jugendhilfe ist gekennzeichnet durch die Vielfalt von Trägern unterschiedlicher Wertorientierungen und die Vielfalt von Inhalten, Methoden und Arbeitsformen.“

Als 1977 in Frankfurt am Main die CDU nach vielen Jahren sozialdemokratischer Stadtregierung überraschend die Wahlen gewinnt, rückt in der Jugendpolitik das Subsidiaritätsprinzip zunehmend in den Vordergrund. Es ist für die CDU zunächst der einzige Gestaltungshebel, um der sozialdemokratisch geprägten Verwaltung des Jugendamtes etwas entgegenzusetzen. Damals gliederte sich die Förderlandschaft der offenen Jugendarbeit in 3 Säulen: Die räumlich und personell relativ gut ausgestatteten stadteigenen Häuser der offenen Tür,  die Jugendinitiativen – überwiegend als selbstverwaltete Jugendzentren im Rahmen der Autonomiebestrebungen der Jugendrevolte gestartet, aber zum Ende der 70er bereits als schlecht ausgestattete, und zu 100% von städtischer Förderung abhängige Kleineinrichtungen in Trägerschaft kleiner ehrenamtlich betriebener Vereine oder gar gänzlich in Eigenregie der Mitarbeiter_innen gelandet  in der Arbeitsgemeinschaft Jugendhäuser freier Träger waren überwiegend die kirchlichen Jugendclubs zusammengeschlossen. Gut beraten von der Verwaltung schlossen sich dieser Gruppe sukzessive auch offene Einrichtungen linker Jugendverbände an …

Bis Ende der 1980er Jahre bleibt diese dreigliedrige Landschaft relativ solidarisch, die Ausstattung der Häuser wird allmählich einigermaßen angeglichen. Als die Verschuldung der Kommune erste Haushaltskürzungen zeitigt, bildet sich eine Initiative „Aufschrei gegen Sozialabbau“, in der sich auch freie Kulturinitiativen den Protesten der kleineren Jugendeinrichtungen zugesellen. Ende der 1980er ist aber das Ende der Gründerzeit erreicht. Erste Haushaltssperren führen zwar noch nicht zur Schließung von Einrichtungen, zeigen aber die Grenzen des Wachstums unwiderruflich an. Ich will hier nicht die ganze Geschichte der offenen Jugendarbeit in Frankfurt erzählen, sondern nur einige Phänomene aufzählen, die mit der Anwendung des Subsidiaritätsprinzips im Dienste der Sparpolitik verbunden sein können:

  1. Feindliche Übernahme: ein freier Träger, der als einer der letzten sein Minijugendzentrum in der Nähe eines städtischen Jugendhauses gegründet hatte, polemisiert so lange gegen die Hausverbotspolitik des Jugendhauses bis ihm die Trägerschaft an demselben übertragen wird. Einsparungseffekt: die Kosten des Minijugendzentrums, sowie eine Personalstelle des Jugendhauses, die im Zuge der Übernahmeverhandlungen gestrichen wird.    
  2.  Leistungsminderung: ein kleiner freier Träger muss seinen gesamten Overhead aus Projekten finanzieren. Wo vorher ein Träger der Jugendhilfe, dank institutioneller Förderung durch das Jugendamt, die gesamten Projektmittel in ein pädagogisches Projekt hatte stecken können, wird nun an den Honorarmitteln gespart. Statt durch professionelle Künstler werden Neigungsgruppen zunehmend von Studierenden betreut.     
  3. Sozialabbau: kleine Einrichtungen können mehr Partizipation der Besucher ermöglichen, als große städtische Jugendhäuser. Mit diesem Argument trat in den 1970er Jahren die Jugendzentrumsbewegung gegen das Establishment der städtischen Jugendhäuser an: „Mehr Demokratie wagen!“ Als Ende der 1990er Jahre ein großes städtisches Jugendhaus geschlossen wird, tritt in einem Frankfurter Stadtteil der kleine Jugendclub eines mittelgroßen freien Trägers in einer Containeranlage an seine Stelle. Eine Übergangslösung, die mithilfe eines privaten Investors in eine neue Dauereinrichtung in einem ehemaligen Straßenbahndepot überführt werden soll. Als der Investor seine Pläne ändert entfällt auch der Jugendclub.

Dieses Subsidiaritätsprinzip erscheint mir, je länger ich mich damit beschäftige, zunehmend als ein vielfältig missbrauchbarer, weil noch recht junger und wenig definierter Begriff. In europäischer Dimension steht er im Verdacht als Einfallstor für Bestrebungen zur Renationalisierung zu dienen. In Hessen wird er 2006 von der schwarzgelben Landesregierung benutzt um die Privatisierung kommunaler Versorgungsleistungen voranzubringen. Wenn die Krise der kommunalen Haushalte voranschreitet, könnte er gut zur Hintertür werden durch die sich der Sozialstaat davonstiehlt. Dann könnten die scheinselbständigen Jungs subsidiär verblöden ohne dass noch ein Jugendamt nach ihnen kräht.  Aber so weit sind wir zumal im reichen Frankfurt am Main noch lange nicht; außerdem steht da noch ein Sozialgesetzbuch davor, das in seiner Jugendabteilung recht deutlich die Handschrift der emanzipatorischen Entwicklungen ab 1968ff. trägt, und bei richtiger Auslegung sogar die Jugendkulturarbeit als Pflichtaufgabe ausweist. In Frankfurt hat ein parteiübergreifendes Bündnis über viele Jahre, als in der Kultur längst heftig gespart wurde (wenngleich auf vergleichsweise höherem Niveau), noch die schützende Hand über den Jugendetat gehalten. Ein Positionspapier  zur  Neuorientierung der offenen Kinder- und Jugendarbeit ist im letzten Jahr nach  einem 3jährigen Diskussionsprozess von allen Trägern der Jugendarbeit  verabschiedet worden …

Ein Kommentar von Daniel Rottner

Diplompädagoge in Altersteilzeit, seit 1970 erfahren in Jugendverbands- und offener Jugendarbeit, in Jugendkulturprojekten und -einrichtungen und im europäischen Jugendaustausch  Quellen: http://de.wikipedia.org/wiki/Subsidiarit%C3%A4t#Sozialenzyklika_Quadragesimo_anno