Wenn wir einen kleinen Rückblick auf unseren Austausch über Subsidiarität wagen, können wir zunächst festhalten, dass sich dieses Prinzip offensichtlich breiter Unterstützung erfreut. Die meisten Beiträge drücken entweder direkt eine positive Bewertung dieses Prinzips aus oder legen wenigstens Kriterien zugrunde, die engstens mit ihm verknüpft sind. Dabei machen die Autor_innen deutlich, dass sie das Prinzip nicht für ein wachsweiches Kriterium halten, das letztlich mit allem vereinbar ist. Das Subsidiaritätsprinzip beweist seine kritische Kraft gegenüber übergriffigem oder unzureichendem staatlichem Handeln, kann aber auch als Korrektiv und Maßstab des eigenen Verhaltens innerhalb zivilgesellschaftlicher Organisationen wirken.

Nur zwei Beiträge stellen das Prinzip selbst – zumindest für bestimmte Kontexte – in Frage. Da ist zum einen der Einwurf, dem Prinzip fehle eine hinreichend klare Definition und es sei deshalb vielfältig missbrauchbar. So könne es z. B. im Dienst der Sparpolitik Leistungsminderungen und Sozialabbau rechtfertigen oder als Einfallstor einer Renationalisierung  innerhalb Europas dienen. Eine naheliegende Antwort auf diesen Vorwurf ist es, auf ein Verständnis von Subsidiarität zu verweisen, das zumindest die benannten Formen von Missbrauch ausschließt. Doch sind die in unserem Austausch explizit oder implizit gebrauchten Definitionen unterschiedlich genug, um jedenfalls einen Klärungsbedarf deutlich zu machen. Wie aber können wir die „richtige Definition“ bestimmen, wenn wir weder einfach rechtspositivistisch bestimmten Legaldefinitionen folgen, noch uns im pluralen Kontext unserer Welt der Lehrautorität der katholischen Kirche unterwerfen wollen? Ich denke, dazu müssen wir uns auf die Begründung von Subsidiarität besinnen, also darauf, weshalb wir überhaupt Subsidiarität als eine grundlegendes Prinzip sozialer Organisation ansehen.

Auch für eine solche Begründung gibt es in unserem Austausch viele anregende Anstöße. Ich möchte – diese Anregungen aufgreifend – eine mögliche Begründungslinie vorstellen, die von der Freiheit ausgeht. Oder genauer von dem Anspruch, dass Gesellschaft der wirklichen Freiheit für alle zu dienen habe. Unter „wirklicher Freiheit“ verstehe ich dabei, dass Menschen die tatsächliche Möglichkeit haben, unter verschiedenen (allerdings natürlich z. B. dem jeweiligen Lebensalter entsprechenden), in ihren Augen wertvollen Lebensentwürfe und -wege frei zu wählen. Nicht nur auf das formale Recht zu einer solchen Wahl kommt es dabei an, sondern darauf, dass auch die zu einer solchen Wahl notwendigen Voraussetzungen u.a. sozialer, kultureller und ökonomischer Art gegeben sind. Die meisten dieser Voraussetzungen (und in einem gewissen Sinn sogar alle) sind aber nur im Rahmen größerer oder kleinerer sozialer Zusammenschlüsse zu haben. Und viele der kleinen und großen Lebensziele von Menschen sind selbst – instrinsisch – sozialer Art. Auf verschiedenste Weisen können nun aber die sozialen Zusammenschlüsse, die Freiheit ermöglichen sollten oder selbst Orte realisierter Freiheit sein könnten, stattdessen Freiheit einschränken oder zerstören. Hier kommt das Subsidiaritätsprinzip ins Spiel mit der Vermutung, dass soziale Zusammenschlüsse Freiheit umso weniger gefährden, je kleiner sie sind und je leichter sie deshalb von denen kontrolliert werden können, deren Freiheit sie unmittelbar dienen sollen. Subsidiarität soll also Freiheit fördern, indem sie Selbstbestimmung – die in Kollektiven notwendig diluiert wird – auch im Kontext sozialer Zusammenschlüsse soweit als möglich sichert. Der Bezug auf das Ziel wirklicher Freiheit für alle erklärt auch die doppelte Stoßrichtung des Subsidiaritätsprinzips: Die negative der Abwehr von freiheitsbeschränkender Einmischung der größeren Einheit in die Angelegenheiten der kleineren und die positive der Einforderung freiheitsfördernder Unterstützung, wo diese notwendig ist.

Auch eine Besinnung auf die Begründung des Subsidiaritätsprinzips macht aus ihm kein Patentrezept, das für jede Fragestellung eine einfache und unmittelbare Antwort bereit hält. In unserem Austausch wurde darauf hingewiesen, dass es sich bei seiner Anwendung um einen „Balanceakt“ handelt. Was hilft uns in diesem Balanceakt das Gleichgewicht zu finden? Was kann unserem Gespräch über „die jeweils geeignete Praxis“ Orientierung geben? Vor dem Hintergrund des engen Zusammenhangs von Subsidiarität und Freiheit wäre es die Frage, welche Zuordnung von Verantwortung und Entscheidungskompetenz auf existierende oder zu schaffende soziale Einheiten am ehesten geeignet ist, die wirkliche Freiheit der Betroffenen oder – in einer glücklichen Formulierung aus einem der Beiträge – der jeweiligen „Protagonisten“ zu fördern.

Um auf Beispiele des möglichen Missbrauchs zurückzukommen: Leider kann das Subsidiaritätsprinzip klamme Kassen nicht einfach füllen. Aber sicher ist es auch nicht einfach gegeben, dass ein „kleiner freier Träger“ die Freiheit und Autonomie z. B. der Besucher_innen eines Jugendhauses automatisch mehr fördert als ein großer oder städtischer Träger, oder gar, dass die Privatisierung und Kommerzialisierung von kommunalen Versorgungsleistungen die Freiheit derer stärkt, die auf diese Leistungen angewiesen sind. Das Subsidiaritätsprinzip verlangt von uns nicht, die Augen vor der Realität zu verschließen, dass die vielleicht gut gemeinte Übertragung einer Einrichtung auf einen kleineren Träger ihr Ende bedeuten kann. Privat ist nicht automatisch besser als Staat, klein nicht immer besser als groß, dezentral nicht in jedem Fall besser als zentral: Immer kommt es darauf an, was wirkliche Freiheit für alle am ehesten fördert. Der kritische Blick auch auf die nichtstaatlichen kollektiven sozialen Akteure gewinnt besonders da Brisanz, wo es sich eben nicht um die Selbstorganisation der Betroffenen oder Protagonisten handelt, sondern vielmehr um verschiedene Formen des letztlich fürsorglichen Handelns, sei es durch eine NGO, die mit Straßenkindern arbeitet, durch einen Verein, der sich im Eine-Welt-Bereich engagiert, oder durch einen Wohlfahrtsverband, der in der Jugendhilfe tätig ist. Diese stehen selbst unter dem Anspruch, dass ihre Tätigkeit in der Tat der Freiheit derer dient, für die sie sich einsetzen.

Ein zweiter Einwurf gegen das Subsidiaritätsprinzip – jedenfalls gegen den Anspruch seiner universeller Gültigkeit – kommt aus dem Libanon. Auch hier hilft uns die Besinnung auf das Ziel von Subsidiarität, die Sicherung von wirklicher Freiheit für alle. Die geschilderte Situation der Übertragung der Regelung von „Statusfragen“, d. h. von Fragen, die unmittelbar unseren Status als Bürger_innen in dem Sinne betreffen, dass sie unsere Rechte und Pflichten in der bürgerlichen Gesellschaft verändern können, an Religionsgemeinschaften, ist dann ein Problem für Freiheit für alle (nämlich eine Verletzung der negativen Religionsfreiheit), wenn damit die Option für alle, problemlos an Religionsgemeinschaften vorbei diese Fragen zu klären, verlorengeht. Ähnliches gilt, wenn Zentralbereiche von Bildung und Gesundheit für viele faktisch nur noch über weltanschaulich geprägte Anbieter zu haben ist.

Ein letztes Thema, das ich aufgreifen möchte: das liebe Geld. Die Zusammenschau der verschiedene Nationen und unterschiedlichste Felder gesellschaftlichen Engagements repräsentierenden Beiträge macht doch deutlich, in welchem Maß die Existenz vieler Einzelinitiativen und -einrichtungen und in der Konsequenz die Vielseitigkeit, Pluralität und Lebendigkeit des zivilgesellschaftlichen Sektors sozialen und kulturellen Engagements von staatlicher finanzieller Förderung abhängt. Viele der Beiträge durchzieht der explizite oder implizite Ruf nach solcher Unterstützung, bei gleichzeitiger Einforderung eines möglichst hohen Grads der Autonomie. Was das letztere angeht, so ist diese Forderung ohne Zweifel vom Subsidiaritätsprinzip in dem Sinne gedeckt, dass der Grundsatz „Wer zahlt, schafft an“ in keiner Weise mit diesem Prinzip vereinbar ist. Was die erste Forderung angeht, so ist die bloße Existenz einer NGO, eines Kulturvereins oder einer Einrichtung der Jugendhilfe sicher noch kein hinreichender Grund für einen Anspruch auf finanzielle Unterstützung. Nur wenn aus vom Subsidiaritätsprinzip selbst unabhängigen Gründen die entsprechende Leistung oder wahrgenommene Aufgabe als so wichtig erkannt werden kann, dass sie in jedem Fall erbracht werden sollte (weil z. B. ohne sie Freiheit für alle Illusion bliebe) oder sie zumindest aus gesamtgesellschaftlicher Sicht in hohem Maße wünschenswert ist, kann ein solcher Anspruch gerechtfertigt werden.

Dr. Andreas Gösele ist Jesuit und lehrt an der Hochschule für Philosophie, München, u. a. Sozialethik.