Auch im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe haben sich in den letzten Jahrzehnten grundlegende Veränderungen vollzogen. Vor dem Hintergrund knapper werdender finanzieller Ressourcen (Finanzkrise, Überschuldung des Staates) und damit verbunden einer größer werdenden  Spreizung zwischen Reichen und Armen in unserer Gesellschaft wurden grundlegende Veränderungen im Bereich der Organisation staatlicher Hilfeleistungen vollzogen.
Zu den öffentlichen und freien Trägern sind private Träger hinzugekommen. Betriebswirtschaftliches Denken und Handeln bestimmen die Angebote. Betroffene und Hilfesuchende wurden zu „Kunden“. Träger  der Jugendhilfe sind zu Anbietern vordefinierter Leistungen geworden. Die kostengünstigsten Angebote erhalten den Zuschlag. Das Prinzip der Subsidiarität wurde weitgehend ausgehebelt und wird zunehmend durch das Marktprinzip ersetzt.
Der Kern und Grundgedanke des Subsidiaritätsprinzips ist so verloren gegangen. Dieser Kern kann als „Stärkung der Zivilgesellschaft“ verstanden werden. Er definiert das Verhältnis der öffentlichen und freien Trägern so, dass freie Träger nicht nur Mitsprache und Gestaltungsraum haben sollen, sondern dass ihnen ein (bedingter) Vorrang bei der Erfüllung sozialer Aufgaben zukommt. Damit sind nicht nur Aussagen über die Organisation des Sozialwesens gemacht, sondern auch zentrale Prinzipien einer funktionierenden Demokratie berührt. Wer über Subsidiarität redet, redet deshalb über die Frage von Partizipation und die Rolle der Zivilgesellschaft für die Erhaltung und Entwicklung der Demokratie. Dies betrifft nicht nur die großen Verbände, sondern insbesondere die Vielzahl der kleinen freien Träger.
Gründe dafür, das Subsidiaritätsprinzip nicht völlig dem Marktprinzip zu opfern, sondern sich auf eine aktuelle Neuinterpretation und Umsteuerung zu besinnen sind:
1. Subsidiarität stärkt Zivilgesellschaft und Demokratie und ermöglicht Partizipation.
2. Subsidiarität schafft Voraussetzungen für gute, gelingende Arbeit.
3. Subsidiarität durchbricht die Verbindung von staatlicher Hilfe und Kontrolle.
4. Freie Träger sind nicht nur Anbieter von Dienstleistungen, sondern gleichzeitig (politische) Interessenvertreter und Fürsprecher der Betroffenen.
5. Freie Träger schärfen den Blick von unten auf die Probleme der Betroffenen und binden Betroffene in die Lösung der anstehenden Aufgaben ein.
6. Freie Träger fördern ehrenamtliches zivilgesellschaftliches Engagement und setzen knappe Mittel optimal ein.
7. Freie Träger tragen zur Weiterentwicklung des sozialen Bereichs durch Innovation und Kreativität bei.
8. Freie Träger haben eine wichtige „Frühwarnfunktion“, indem sie durch ihre Nähe zu den Betroffenend,  ihre Fähigkeit zum Widerspruch und Protest frühzeitig auf nicht gelöste Probleme und neue Problemfelder aufmerksam machen.
9.  Freie Träger haben eine wichtige Funktion zur Kontrolle staatlicher Einrichtungen.
Das staatliche Hilfesystem kann es sich eigentlich nicht leisten auf dieses Potenzial der freien Träger zu verzichten. Freie Träger haben die Verantwortung dieses Potenzial auch zu nutzen und sichtbar zu machen. Hierzu ist jedoch neben der notwendigen finanziellen Ausstattung auch eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe notwendig. Denn zu einer funktionierenden Zivilgesellschaft gehören u.a. Partizipation, Anerkennung verschiedener Meinungen und Standpunkte, Solidarität mit den Schwächeren und Verantwortungsübernahme für die Gemeinschaft.
So verstandene Subsidiarität ist mehr als nur eine Arbeitsteilung zwischen den öffentlichen und freien Trägern zur Optimierung von Arbeitsläufen. Sie ist Teil einer funktionierenden Demokratie und eines Staates, der die Würde des Menschen und nicht die „Kostenreduzierung“ ins Zentrum seines Handelns stellt.

Literaturhinweis:
Thomas Olk: Freie Träger in der Sozialen Arbeit. In: Hans-Uwe Otto / Hans Thiersch (Hrsg.): Handbuch Soziale Arbeit. 4., völlig neu bearbeitete Auflage, München 2011, S. 415-428.

Günther Gugel ist Diplom Pädagoge. 1977-1980 war er Mitarbeiter der Arbeitsgemeinschaft Friedenspädagogik, danach war er bis Ende 2011 Co-Geschäftsführerdes Instituts für Friedenspädagogik Tübingen e.V. Er arbeitet bei der Berghof-Foundation / Friedenspädagogik Tübingen.