Das Subsidiaritätsprinzip wird häufig als Begründung verwendet, warum sich der Staat nicht einmischen, bzw. warum der Staat die „kleineren Einheiten“ in Ruhe lassen und sich zurückziehen sollte. Doch das ist eine mögliche, aus meiner Sicht sogar falsche Interpretation des Subsidiaritätsprinzips. Dieses Prinzip wurde zum ersten Mal in der Sozialenzyklika Quadragesimo Anno vom Papst Piuis XI am 15. Mai 1931 veröffentlicht. Prof. Dr. Oswald von Nell-Breuning gilt als deren Verfasser.
In der Linie des Subsidiaritätsprinzips in der Sozialenzyklika werden einige Thesen formuliert:
1. Das Subsidiaritätsprinzip überlässt den kleineren Gemeinschaften, wie z. B. den Kommunen, den Familien, Verbänden etc. die Eigeninitiative und die Gestaltungsfreiheit
2. Das Subsidiaritätsprinzip verteidigt die kleineren Gemeinschaften gegen Übergriffe des Staates und der Vereinnahmung durch den Staat.
3. Das Subsidiaritätsprinzip gibt Initiativen, Verbänden etc. eine eigene Kompetenz und Legitimation als eigene Organisationen im Rahmen der staatlichen Ordnung. Sie haben eine ausgeprägte Eigenverantwortung bei der Gestaltung ihrer eigenen Ordnung etc.
4. Das Subsidiaritätsprinzip bedeutet allerdings nicht, dass die größere Einheit, d. h. der Staat die kleinere Einheit nicht unterstützen darf. Klar ist es immer schwierig, wenn eine größere, die finanziell besser gestellte Einheit, eine kleinere, finanziell schwächere Einheit unterstützt. Die Grenze zur Anpassung und Abhängigkeit der kleineren Einheit ist fließend.
5. Das Subsidiaritätsprinzip bedeutet auch, dass bei der (finanziellen) Unterstützung der kleineren Einheit (Familie, Verbände) die Eigenständigkeit und Souveränität gewahrt werden muss.
6. Das Subsidiaritätsprinzip verpflichtet sogar die größere Einheit dazu, die kleinere Einheit so zu unterstützen, dass sie wirklich lebensfähig ist und sich eigenständig entwickeln kann. Diese Sicht des Subsidiaritätsprinzips wird gern von Politkern ignoriert, da so das Subsidiaritätsprinzip nicht als Begründung für Sozialabbau herhalten kann.
7. Das Subsidiaritätsprinzip will kein Almosenverteilungssystem, sondern sogar eine Reform der Zustände. Gesellschaftliche Reformen sollen die kleineren Einheiten stärken und überlebensfähig machen. Die kleineren Einheiten brauchen Rechte und echte Mitgestaltungsmöglichkeiten.
8. Einige aktuelle Beispiele für die Verwirklichung des Subsidiaritätsprinzips: die Menschen sollten soviel Rente bekommen, dass sie davon leben können. Die Pflegeversicherung sollte so ausgestattet sein, dass die pflegebedürftigen Menschen und ihre Angehörigen eine echte Wahlfreiheit haben, zwischen eigener häuslicher Pflege (aus finanziellen Gründen) und der ambulanten Pflege oder dem Altersheim.
9. Das Subsidiaritätsprinzip bedeutet für die Verbände, dass sie so ausgestattet werden sollen, dass sie ihre Aufgabe wirklich wahrnehmen können und nicht abhängig von der größeren Einheit sind.
Gerhard Endres
Theologe, Vorsitzender Netzwerk Gesellschaftsethik e.V. und KAB Bildungswerk e.V., München