Wenn man in die strukturelle Diskussion von formaler Bildung einsteigt, wird das Subsidiaritätsprinzip, welches besagt, dass eine Aufgabe möglichst von der kleinsten „zuständigen“ Einheit übernommen werden soll und übergeordnete Einheiten nur dann eingreifen sollen, wenn die unteren Einheiten es nicht können, gerade von der Sonderpädagogik schnell als eine Voraussetzung für Inklusion ausgemacht.
Im etablierten Schulsystem gibt es derzeit keine Verlässlichkeit auf integrative Angebote.
Ob es solche Angebote überhaupt gibt, scheint vom Zufall und Wohnort abhängig.
Inklusion im Schulbetrieb braucht nach Meinung der Experten subsidiäre Sonderpädagogik auf eigenständiger konzeptioneller Grundlage, die sich von der etablierten, stationären Sonder(schul)pädagogik emanzipiert.
Auf politischer Ebene wird seit einiger Zeit die Gesetzesinitiative „große Lösung“ zur Eingliederung für Kinder mit Behinderung diskutiert.
Die Idee geht von der Prämisse aus, der Inklusion stehe zunächst das – insbesondere auch aus historischen Gründen- hochgegliederte Sozialleistungssystem in Deutschland im Wege.
Die große Lösung bedeutet nun die Zusammenführung aller Kinder und Jugendlichen ohne Unterscheidung nach Behinderung und Erziehungsschwierigkeiten im Leistungssystem Kinder- und Jugendhilfe SGB VIII und wird in der Fachwelt seit einigen Jahren diskutiert.
Die Kinderkommission des Bundestages befürwortet eine möglichst rasche Umsetzung der erarbeiteten Vorschläge.
Wenn man sich die Ergebnisse, die es hierzulande momentan bereits in der Praxis gibt, genauer betrachtet, drängt sich einem der Eindruck einer neuen Gefahr auf.
Vor lauter Begeisterung am Bündeln der Maßnahmen, wird übersehen, dass die neuen Förderzentren eigentlich wieder eine Form von Sondereinrichtungen werden.
Vielleicht lässt sich der Faden entwirren, wenn man den beiden Begriffen auf den Grund geht:
Das Subsidiaritätsprinzip setzt auf die Entfaltung der individuellen Fähigkeiten, der Selbstbestimmung und Selbstverantwortung. Das lateinische Wort „subsidiär“ bedeutet übersetzt „unterstützend“ oder „ersatzweise eintretend“.
Hinter dem Subsidiaritätsprinzip steht, gerade im liberalen Denken, auch ein klares Menschenbild: Das des eigenverantwortlichen Individuums.
Der Begriff der Inklusion (includere: beinhalten, einschließen) ergibt sich aus der Auffassung, dass eine Gesellschaft aus Individuen besteht, die sich alle mehr oder weniger unterscheiden.
Inklusion will die Veränderung bestehender Strukturen und Auffassungen dahingehend, dass die Unterschiedlichkeit der einzelnen Menschen die Normalität ist. Die Verschiedenheit der Menschen und deren Potential für die Gesellschaft und den Einzelnen stehen bei der daraus resultierenden Pädagogik der Vielfalt im Mittelpunkt.
Nach den Ideen von Pädagogik der Vielfalt arbeiten, bedeutet zunächst: sensibel machen für die Existenz von Verschiedenheit und aufmerksam machen für dessen Potential.
Daraus ergibt sich automatisch der legitime Anspruch des Einzelnen, als eigenverantwortliches Individuum akzeptiert zu werden, wo immer es geht und nur da „ersatzweise – subsidiär“ unterstützt zu werden, wo er tatsächlich allein nicht mehr weiterkommt. So wird im Sinne einer inklusiven Haltung die Bereitschaft möglich, jeden Menschen in seiner Einmaligkeit anzuerkennen und wertzuschätzen.
Bei unseren Überlegungen zu Bildung gehen wir von einem erweiterten Bildungsbegriff aus – Bildung als Selbstbildung.
„Noch nie hat ein Mensch einen anderen verändert, sondern ein Mensch verändert sich selbst unter bestimmten Einflüssen, um zu überleben“ (O. Speck)
Ein erweiterter Bildungsbegriff bezieht sich folglich auf die Lebenswelt der Subjekte, fasst Bildung als Selbstbildung, arbeitet mit einem ganzheitlichen Ansatz und ermutigt zu eigenem kulturellen Tun.
Das inklusive Bildungsideal ist ein System, in dem alle einen gemeinsamen Prozess erleben und wahrnehmen, in dem jede/jeder Einzelne seinen sicheren Platz hat und somit eine Teilnahme für alle gewährleistet ist, nach der Maxime „Es ist normal, verschieden zu sein.“ (R. v. Weizäcker).
Das Ergebnis dieses Gedankenspiels ist eine Utopie, die wir hier bewusst provokativ formulieren:
Da unser formales Bildungssystem ganz offensichtlich auf dem Weg zur echten Inklusion noch eine weite Strecke zurücklegen muss, kommt den non formalen Angeboten, beispielsweise der kulturellen Bildung mit ihrem Anspruch, allen Menschen eine Teilhabe am kulturellen Leben der Gesellschaft zu erschließen eine neue Bedeutung zu.
Man kann unter kultureller Bildung das lebenslange individuelle Lernen verstehen, das den Menschen von jung bis alt überall, sowohl innerhalb wie außerhalb von Bildungseinrichtungen, sowohl privat als auch öffentlich begleitet. Kulturelle Bildungsarbeit findet nicht nur in Einrichtungen und Projekten statt, die auf Kulturpädagogik spezialisiert sind. Wichtige Paradigmen sind Freiwilligkeit, Fehlerfreundlichkeit und Subjektorientierung.
Die Erfahrungen, die hier – befreit vom Zwang des messbaren Erfolges und der Bildungsauslese – in kleinen, subsidiär arbeitenden, differenzierten Angebotsformen gemacht werden, können durch Vernetzung mit den formalen Bildungsangeboten, wie sich in unseren Tagen immer mehr entwickeln, rückübertragen werden und das ganze System nachhaltig beeinflussen in Richtung echter Inklusion.
Quellen: ECHO e.V. – Spielregelwerk; Institut für Qualitätsentwicklung in Schleswig Holstein; Gabler Wirtschaftslexikon; Ganztagsbildung gemeinsam gestalten – 2. Ganztagsbildungskongress der LHM
Karl-Michael Brand
Kunstpädagoge M.A., Theaterpädagoge BuT, 1990 Gründungsmitglied und seit 2000 einer von zwei hauptamtlichen Geschäftsführern von ECHO, Verein für integrative Spiel- und Kulturpädagogik e.V. Davor Berufserfahrung in kultureller Bildung (Päd. Aktion und PA/Spielkultur) und Behindertenhilfe (Franziskuswerk Schönbrunn).