Inklusion als Prozess und Ziel, hierarchische Differenzen und die damit verbundenen Diskriminierungen und Ausgrenzungen abzubauen, ist neben gesellschaftspolitischem und wirtschaftlichem Handeln gerade auch für pädagogisches Handeln eine zentrale Aufgabe und Herausforderung. Dabei geht es vornehmlich darum, eine Haltung zu entwickeln, Menschen trotz Differenzen als gleichwertig zu behandeln, Strukturen an individuelle Voraussetzungen anzupassen sowie Selbst- und Mitbestimmung als unteilbares Menschenrecht anzuerkennen.
Die folgenden Gedanken zum Thema Inklusion ermöglichen – eine subsidiäre Haltung entwickeln basieren entsprechend der UN-Behindertenrechtskonvention auf einem engen Inklusionsbegriff und somit auf Menschen mit Behinderungen bzw. Beeinträchtigungen.
Die UN- Behindertenrechtskonvention legt einen Schwerpunktauf die Bewusstseinsbildung (Artikel 8) der gesamten Gesellschaft. Im Fokus stehendie Rechte und vor allem auch die Würde von Menschen von Behinderungen, die von der gesamten Gesellschaft geachtet und gefördert werden sollen. Die Entwicklung und Erfahrung von Selbstwert bzw. von Eigenwürde als wesentlichem Moment von Subjektbildung basiert auf sozialen Interaktions- bzw. Anerkennungsprozessen. In der Auseinandersetzung mit anderen entwickeln wir als Menschen ein Bild von uns und werten uns anhand dieser Aussagen selbst. Als soziale Beziehung ist Anerkennung macht- und herrschaftsfrei und beruht nicht auf der Leistungsfähigkeit eines Menschen (vgl. Scherr 1997, S. 57). Sehr deutlich formuliert es Bielefeldt (2009, S.11) mit Verweis auf den Zusammenhang zwischen Autonomie und sozialer Inklusion: „Ohne soziale Inklusion kann Autonomie praktisch nicht gelebt werden, und ohne Autonomie nimmt soziale Inklusion fast zwangsläufig Züge von Bevormundungan.“
Nun ist Bevormundung das genaue Gegenteil vom Prinzip der Subsidiarität. Als Maxime zielt Subsidiarität darauf ab, individuelle Fähigkeiten, Selbstbestimmung und Verantwortung für sich selbst zu entwickeln bzw. entwickeln zu lassen. Damit sind unweigerlich auch gesellschaftliche, wirtschaftliche und personale Machtfragen tangiert.
Was kann das für eine pädagogische Praxis bedeuten? Zunächst unterscheiden sich die Praxen (sozial-) pädagogischer Arbeitsfelder hinsichtlich mehrerer Faktoren: Gesellschaftliches und wirtschaftliches Umfeld, Strukturen der Finanzierung, Strukturen der Organisation, organisatorische Selbsterhaltungstriebe, institutionelle Verankerung. Diese Faktoren haben selbstverständlich auch – neben intrapersonalen Faktoren – Auswirkungenauf die persönliche Haltung von pädagogischen Fach- und Laienkräften im Hinblick auf Subsidiarität oder Bevormundung.

Abschließend sollen ein paar Aspekte einer subsidiären bzw. inklusiven Haltung auf Seiten des pädagogischen Fach- oder Laienpersonals skizziert werden: 

„Hilf mir es selbst zu tun“
Dieser Grundsatz aus der Erziehungsphilosophie Maria Montessoris ist das Gegenteileiner bevormundenden Haltung. Die Herausforderungenbestehen unter anderem darin:

  • Geduld mit sich und mit dem Anderen zu haben,
  • Offenheit für die unterschiedlichen Wege der Lösungsfindung zu zeigen,
  • Faktoren, die einen selbst oder Andere unter Zeitdruck setzen zu minimieren,
  • Raum und Zeit für Zuhören und Beobachten zu schaffensowie
  • Netzwerke der gegenseitigen Unterstützung zu etablieren.  

Mit jemanden reden statt nur über ihn reden
Menschen mit Behinderungen kennen fragende Blicke, die jedoch nie oder sehr selten in einer an sie gerichteten Frage münden. Sehr häufig werden diese Fragen dann an Eltern oder pädagogisches Laien- und Fachpersonal gerichtet und dieses beantwortet es dann. Auch eine Form von Ausgrenzung.

Strukturen individuell anpassen
Inklusion im pädagogischen Kontext bedeutet im Gegensatz zur Alltagspraxis der Integration eine Anpassung von Strukturen an das Individuum. Für Fach- und Laienpersonal bedeutet dies die Bereitschaft, Informationen über Bedarfe, Interessen, Alltagskompetenzen etc. einzuholen und die vorhandenen organisatorischen und personellen Strukturen daraufhin zu modifizieren bzw. anzupassen. 

Selbstständigkeit ist keine Bedingung für das Recht auf Selbstbestimmung
Menschen mit Beeinträchtigungen, die es ihnen nicht erlauben, das ein oder andere ohne Unterstützung anderer zu machen – also selbständig zu tun – sind nicht selten mit der Situation konfrontiert, dass ihnen das Recht abgesprochen wird, darüber zu bestimmen was und wie etwas gemacht werden soll. Sie werden zu Bittsteller/innen degradiert, die doch froh sein sollen, dass sie überhaupt Hilfe bekommen. Sind sie nicht froh und bedanken sich nicht, werden sie schnell als undankbare Nörgler/innen und Unzufriedene etikettiert. 

Ungleichheiten und verschieden sein anerkennen
„Menschen können verschieden normal sein“. Versteht man dieses leicht veränderte Zitat von Hans Wocken (2010) als pädagogische Grundhaltung so setzt dies in der pädagogischen Praxis einen mentalen Umdenkprozess voraus. Das Gegensatzpaar „normal – unnormal“ wird ausgehebelt und kann somit nicht mehr als Rückzugspunkt oder als individuelle mehrheitsbezogene Bewertungsbasis verwendet werden. Die Frage der Normalität und die damit verbundene (Ab-) Wertung ist somit auch keine Frage der Mehrheitsmeinung, -gesellschaft und –politik mehr.

Beteiligungsmomente ausbauen und Grade der Beteiligung stetig erhöhen
Die Beteiligung von Menschen an Entscheidungsprozessen ist in vielen pädagogischen Arbeitsfeldern ein wichtiges Ziel. Es gibt viele Hürden, die es Menschen mit Beeinträchtigungen erschweren, sich an Entscheidungsprozessen zu beteiligen. Vor der wohl größten Hürde stehen Menschen mit einer kognitiv-intellektuellen Behinderung: Ihnen wird nicht zugetraut, dass sie zu einem rationalen Urteil fähig sind. Die Doktrin der rationalen Urteilsfähigkeit als Maßstab der Teilhabe an politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen oder institutionellen Entscheidungsprozessen ist diskriminierend und ausgrenzend, wissenschaftlich umstritten (siehe dazu u.a. Meier-Seethaler 2000) und widerspricht grundlegend der Würde des Menschen. Es ist somit immer wieder die Aufgabe des pädagogischen Laien- und Fachpersonals zu überprüfen, wie Fremdbestimmung, Alibi-Teilhabe und Dekoration ausgeschlossen und die Beteiligungsgrade von Menschen im Allgemeinen und mit einer kognitiv-intellektuellen Behinderung im Besonderen ausgebaut und erhöht werden können.

Interessenbezug
Menschen mit Behinderungen werden häufig als Opfer oder Bittsteller behandelt. Sätze wie „Jetzt spiel halt auch mal mit Jonas (Kind mit Behinderung)“ oder Spezialveranstaltungen für Menschen mit Behinderungen, zu denen auch Menschen ohne Behinderungen eingeladen werden, haben Potential der Entwürdigung. Für pädagogisches Fach- und Laienpersonal muss es darum gehen, gemeinsame Interessen zu finden und interessenbezogene Räume der Begegnung, des Austauschs und oder des Spiels zu arrangieren.

Literaturangaben

Bielefeldt, Heiner (2009): Zum Innovationspotential der UN-Behindertenrechtskonvention. Essay No. 5. 3. aktualisierte und erweiterte Auflage Juni 2009; abrufbar unter http://www.institut-fuer-menschenrechte.de/fileadmin/user_upload/Publikationen/Essay/essay_zum_innovationspotenzial_der_un_behindertenrechtskonvention_auflage3.pdf (Stand 29.10.2011)
Meier-Seethaler, Carola (2000): Gefühl und Urteilskraft. Ein Plädoyer für die emotionale Vernunft.
München: C.H. Beck Verlag.
Prengel, Annedore (2006): Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und Gleichberechtigung in Interkultureller, Feministischer und Integrativer Pädagogik. 3. Auflage. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.
Scherr, Albert (1997): Subjektorientierte Jugendarbeit. Eine Einführung in die Grundlagen emanzipatorischer Jugendpädagogik. Open-Access-Ausgabe des 1997 im Juventa-Verlag erschienen, seit 2010 vergriffenen Buches.

Georg Staudacher
Geschäftsführer von Spielratz e.V. – Verein für pädagogische Ferien- und Freizeitaktionen in München.