Das Bündnis „Wir sind die Zukunft“ hat in einem Sonder-Newsletter vom 26. April 2021 eine kritische Kommentierung zur aktuellen, problematischen Situation junger Menschen in München veröffentlicht. Der Münchner Trichter e.V., der sich für die Bedürfnisse, Anliegen und Interessen junger Menschen in München einsetzt, unterstützt das darin formulierte Ansinnen.
Jugend unter Druck – Jugend im öffentlichen Raum
Eine kritische Kommentierung zur aktuellen Entwicklung
(erschienen im Sonder-Newsletter des Bündnisses „Wir sind die Zukunft“, 26.04.2021)
Seit Beginn der Pandemie und insbesondere jetzt an milden Frühlingstagen werden Jugendliche und junge Erwachsene von der Polizei regelmäßig aus dem öffentlichen Raum vertrieben. Jugendliche erhalten Platzverweise und Bußgeldbescheide wegen Nicht-Einhaltung der geltenden Kontaktbeschränkungen. Die Konfliktsituation zwischen Polizei und den jungen Menschen spitzt sich an vielen Plätzen dramatisch zu. Mit Sondereinsatzkommandos wird insbesondere gegen Jugendliche und junge Erwachsene konsequent vorgegangen. Es wiederholen sich die Berichte, dass Jugendliche im Rahmen der Platzräumungen zusätzlich mit den Maßnahmen der Drogenfahndung (Taschendurchsuchung, intimen Körpervisitationen) überzogen und eingeschüchtert werden. Während sich ein Teil der Jugendlichen zunehmend mit der Polizei in ein „Katz-und-Maus-Spiel“ begibt, gehen viele junge Menschen aber auch in die Isolation und in den Rückzug. Sie verlassen ihr „Kinderzimmer“ kaum noch, verlieren sich in Gefühlen von Ohnmacht und Perspektivlosigkeit, welche leider in viel zu vielen Fällen in psychischen Krisen, Depression bis hin zum Suizid enden. Die Mitarbeiter*innen der OKJA und der Jugendhilfe insgesamt erfahren als wichtige Anlaufstellen für Jugendliche in der Pandemie Einblick in viele persönliche krisenhafte Erfahrungen und erhalten Hilferufe.
Kinder und Jugendliche brauchen Gleichaltrige
Seit Beginn der Pandemie weisen Sozialwissenschaftler*innen, Pädagoginnen* und Pädagogen* sowie und Kommunalpolitiker*innen – zum Beispiel auch im Kinder- und Jugendhilfeausschuss – auf die Bedeutung des Kontakts von Kindern und Jugendlichen mit Gleichaltrigen hin. Kinder und Jugendliche sind in ihrer sozialen Entwicklung auf diese Begegnungen angewiesen. Es stehen Entwicklungsaufgaben an, wie die Ablösung vom Elternhaus und die Verselbständigung, Selbstvergewisserung und Positionierung in der Peergroup, die Aneignung neuer Handlungsräume, eben des Quartiers, des Stadtbezirks, der Stadt und darüber hinaus. Der öffentliche Raum ist quasi die wesentliche „Bühne“ auf der diese Entwicklungen stattfinden. Und schon vor der Pandemie war diese Nutzung des öffentlichen Raums durch Jugendliche nicht konfliktfrei und anerkannt.
Seit 14 Monaten eingeschränkte Kontaktsituation für Kinder und Jugendliche
Inzwischen wird auch in Studienergebnissen und in der Presse über die pandemiebedingten Belastungen von Kindern und Jugendlichen berichtet. In München tagen auf unterschiedlichen Ebenen Gremien zum Thema „Jugend im öffentlichen Raum“: REGSAM lädt in besonders betroffenen Stadtbezirken zu Runden Tischen ein. Der Runde Tisch „Jugend braucht Raum“, der sich schon 2018 gegründet hat, beobachtet und bewertet die stadtweite Entwicklung. Der Runde Tisch des Gesundheitsausschusses hat sich mit der Situation von Kindern und Jugendlichen beschäftigt. Auf der Arbeitsebene gibt es Gespräche zum „jugendlichen Feiern im Freien“ an dem unter anderem das Stadtjugendamt und das Kreisverwaltungsreferat beteiligt sind. Die Verbände diskutieren wöchentlich die Situation in einer Unterarbeitsgruppe der DachArge mit der Leitung des Stadtjugendamts. Bürgermeisterin Verena Dietl spricht mit den Referaten über die Situation der Jugendlichen im öffentlichen Raum. Das Thema wird auch im Krisenstab der Stadt diskutiert. In Kürze wollen sich Polizei und städtische Referate im Sicherheits- und Aktionsbündnis Münchner Institutionen (SAMI) mit dem Thema beschäftigen.
Trotz vieler Gespräche hat sich für Kinder und Jugendliche bisher nichts geändert. In allen Gremien wird anerkannt, dass Kinder und Jugendliche keine „kleinen Erwachsenen“ sind und sie durch Kontaktbeschränkungen, Einschränkung der Offenen Kinder- und Jugendarbeit, Schulschließungen und Schließung aller Freizeitaktivitäten in ihrer Entwicklung eingeschränkt werden. Aber beim Nachdenken über Lösungen und Erleichterungen wirken die Kontaktbeschränkungen wie eine Blockade. Auch wenn kürzlich anerkannte Virolog*innen die Überbetonung des Infektionsschutzes im Freien kritisierten und stattdessen mehr Schutz in Innenräumen forderten, ändert sich nichts an der Lage auf Münchner Plätzen und Grünanlagen.
Die Kontaktbeschränkungen liegen außerhalb der kommunalen Entscheidungsebene und gleichzeitig sind die Kommunen mit ihren Diensten der Jugendhilfe und dem Wächteramt des Jugendamts unmittelbar mit der Situation der Kinder und Jugendlichen betraut und auch verantwortlich. Zu zaghaft, zu leise und undramatisch waren bisher die Hilferufe der Kommune in Richtung Landes- und Bundespolitik. So bringen die jüngsten Änderungen des Bundesinfektionsschutzgesetzes Erleichterungen für den Sport bei Kindern unter 14 Jahren, welche aber in Bayern keine Anwendung finden, weil in Bayern strengere Regeln gelten. Natürlich sind „Ausnahmeregelungen“ für einzelne Bevölkerungsgruppen in einer Pandemie ein schwieriges Thema, erzeugen Neiddebatten und die Frage, an welchen Stellen stattdessen mehr Infektionsschutz notwendig ist. Den zweifellos geht es um eine wichtige gesellschaftliche Herausforderung, und zwar die Pandemie in den Griff zu bekommen.
Elementare Bedürfnisse nicht weiter unbeachtet lassen
Ohne Veränderungen wird jedoch die Situation weiter eskalieren, wenn sich Jugendliche auf den öffentlichen Plätzen weiter gegängelt fühlen, wird ihre Machtlosigkeit zunehmend in Aggression umschlagen. Eine Eskalation, die am Ende den Jugendlichen angelastet wird und nicht den Erwachsenen, die die Entscheidungen treffen und die nicht in der Lage waren, mit differenzierten Regelungen und einer angemessenen Kommunikation und Durchsetzung durch die Polizei auf die elementaren Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen einzugehen.
In der Konfliktbearbeitung ist der Perspektivwechsel ein wesentlicher Schritt zur Bearbeitung von Konflikten. Ein paar Fragen die vielleicht dazu anregen: Was will man jungen Menschen raten, die von Polizeiaktionen, Platzräumungen berichten und frustriert sind? Vielleicht, dass die Jugendlichen sich besser im Stadtgebiet verteilen (verstecken) sollen, damit sie nicht so leicht aufgegriffen werden können? Was sollen Mitarbeiter*innen der OKJA oder Eltern ihren Jugendlichen im Monat 14 der Pandemie raten? Immer noch: „stay at home!“, obwohl sie wissen, dass es für deren Entwicklung schädlich ist? Wie lange werden die Corona-Beschränkungen in dieser Form noch andauern? Wann wird es eine Impfung für Kinder und Jugendliche geben? Sollen Jugendliche einen Brief an den Oberbürgermeister und den Ministerpräsidenten schreiben, um mit ihren Anliegen Gehör zu finden?
Wie lässt sich diese Situation deeskalieren? Was können Jugendarbeit und Kommune tun?
Erziehungswissenschaftler Dr. Prof. Axel Pohl von der FH St. Gallen hat ein paar Wochen vor dem Ausbruch der Pandemie im Januar 2020 auf dem Fachtag „Jugend braucht Raum“ über Erkenntnisse aus einer europaweiten Studie partispace.eu zur Nutzung des öffentlichen Raums berichtet. Die Praxis der Nutzung des öffentlichen Raumes stellt einen Teilhabeanspruch junger Menschen an der Stadtgesellschaft dar und ist damit eine grundlegende Form der Partizipation. Jugendliche nutzen und gestalten ihre Treff- und Verweilorte ohne vorher an einem offiziellen Beteiligungsverfahren teilgenommen zu haben.
Aufgabe der Jugendarbeit, aber auch der Kommune ist es, diese Nutzung zu beobachten und die daraus entstehenden Anforderungen in die Sprache der Verwaltung und Politik einer Kommune zu übersetzen.
Dieser Prä-Corona-Erkenntnis folgend, können wir das regelwidrige Verhalten der Jugendlichen auch als eine Form des Protests und der Einforderung an Beteiligung lesen. Die Aufgabe der Jugendarbeit und der Kommune wäre dann, diesen Teilhabeanspruch aufzunehmen und in die Sprache der Politik und Verwaltung zu übersetzen. Dies sollte vor allem auch öffentlich passieren, so dass Jugendliche wahrnehmen können, dass auch ihre Bedürfnisse in der Pandemie ernst genommen werden und aktiv nach Lösungen gesucht wird. Es ist zu vermuten, dass Münchner Jugendliche von den Gesprächen und Diskussionen in den vielen Gremien kaum etwas erfahren haben. „Übersetzen in die Sprache der Politik und Verwaltung“ heißt in diesem Fall auch, einen Diskurs mit der Polizei über einen deeskalierenden Umgang mit Jugendlichen zu führen und selbstverständlich die nachdrückliche Forderung an die Landes- und Bundesregierung, Kindern und Jugendlichen differenzierte und damit altersgemäße Kontaktbeschränkungen im Freien zuzugestehen sowie Räume der Begegnung, wie zum Beispiel Angebote der Offenen Kinder- und Jugendarbeit, kulturelle Bildung und Sportstätten wieder zugänglich zu machen.
Kinder und Jugendlichen brauchen Unterstützung von der Stadtspitze
Für München hat die öffentliche und freie Jugendhilfe in vielfältiger Weise den dringenden Handlungsbedarf schon mehrfach dargestellt. Wenn wir als Kommune der Verantwortung, für Kinder und Jugendlichen in München gerecht werden wollen, brauchen wir die Unterstützung der Stadtspitze. Der Oberbürgermeister wird ersucht, sich mit Nachdruck in der Landes- und Bundespolitik und über den Städtetag für eine Lösung dieser Situation einzusetzen. Im Interesse der Kinder und Jugendlichen in München.
Robert Pechhacker – ist Geschäftsführer der Arbeitsgemeinschaft Friedenspädagogik e.V.
Für den Münchner Trichter ist er Mitglied im Kinder- und Jugendhilfeausschuss, Teilnehmer an der Unterarbeitsgruppe Corona der DachArge und Mitglied des Runden Tisches „Jugend braucht Raum“.