Kulturelle Bildung
Wie schön, dass ich auf sechs Beiträgen von Kooperationspartnern des Münchner Trichters aufbauen darf. Meine Kollegen haben bereits ein Profil unseres Verständnisses von kultureller Bildung gezeichnet. Wir sehen Kinder und Jugendliche als Teilhabende, die die zur Verfügung stehenden kulturellen Ausdrucksmöglichkeiten nutzen, auf diese Weise die Kulturen, in denen sie aufwachsen, kennen lernen und gleichzeitig immer mit gestalten und verändern. Wir kulturelle Bildner_innen möchten die Frei-Räume dafür zur Verfügung halten und die Kinder und Jugendlichen in der Gestaltung ihrer Kulturen unterstützen.
Zur Kultur – und das ist nun die spezifische Perspektive der Arbeitsgemeinschaft Friedenspädagogik – zählen auch die formulierten und noch mehr die unformulierten Übereinkünfte über die Normen des Zusammenlebens, welche Verhaltensweisen mehr oder weniger selbstverständlich erwartet werden, und wie reagiert werden „darf“, wenn die Erwartungen verletzt werden. In den freiwilligen oder erzwungenen Gemeinschaften von Kindern und Jugendlichen in unserer aktuellen Stadtgesellschaft, d.h. in den Schulen, in den Jugendzentren, in den Cliquen, kommen unterschiedliche Wertewelten zusammen. Die traditionellen Übereinkünfte über Normen sind brüchig und schnellen Veränderungen unterworfen. Das hat notwendig zur Folge, dass die Gemeinschaften ihre Werte und ihre Verhaltenserwartungen immer wieder neu justieren müssen, d.h. das Zusammenleben wird angenehmer und einfacher für alle Mitglieder, wenn sie die unterschiedlichen kulturell geformten Deutungsmuster und Verhaltensroutinen ihrer Selbstverständlichkeit berauben und sich darüber verständigen. Solche Verständigungsprozesse sind selbstverständlicher Bestandteil der alltäglichen pädagogischen Arbeit. Oft aber verändern sich die Gewohnheiten und Werte im Umgang miteinander schleichend, und Phänomenen wie Mobbing oder Feindschaften zwischen Gruppen prägen die Kultur des Zusammenlebens.Gerade dann sind nicht Moral und Bestrafung angesagt, vielmehr bedarf es sehr aktiver Kulturarbeit: Gemeinsam erarbeiten, welche geteilte Werte es gibt, auf welche Normen sich die Gemeinschaft einigen möchte und wie sie sich umsetzen und sichern lassen.

Auch die Organisation des Zusammenlebens von Interessen-, Alters- und sozialen Gruppen innerhalb des Staates wird nicht allein über Gesetze geregelt. Kulturelle Praktiken steuern die Wahrnehmung und Beurteilung von politischen Prozessen und die Teilhabe an Entscheidungen auf vielfältige Weise und auf verschiedenen Ebenen.
Der demokratisch verfasste Staat hat den Anspruch, in Wechselwirkung zu stehen mit einer demokratischen Kultur, in die in den Menschenrechten formulierten demokratischen Werte gelebt werden und die Beteiligung aller Bürgerinnen und Bürger an der Gestaltung der öffentlichen Belange gefördert wird. Kulturelle Bildung bedeutet daher auch, Kinder und Jugendliche als Mitgestaltende der demokratischen Kultur zu sehen und ihre Mitwirkung zu fördern. Partizipation, d.h. die Beteiligung der Kinder und Jugendlichen an Entscheidungen, die sie betreffen und an der Gestaltung ihrer Lebensräume. Partizipation der Kinder und Jugendlichen in Einrichtungen, im Stadtteil und in der Kommune hat in München einen hohen Stellenwert und wird gefördert. Dennoch sind wir noch ein gutes Stück davon entfernt, dass Partizipation nicht nur akzeptierte, sondern auch praktizierte Alltagskultur ist. Die Begegnung auf Augenhöhe ist noch nicht die gängige kulturelle Praxis in den Beziehungen zwischen Erwachsenen, Kindern und Jugendlichen.
Demokratische Kultur geht über Partizipation hinaus. „Hier in Deutschland herrscht eine ganz andere Diskussionskultur. Es wird viel mehr über politische Fragen diskutiert“, so behaupteten kürzlich Bekannte, die einige Zeit in den USA gelebt haben. Ist das so? Der Meinungsaustausch über aufregende aktuelle Ereignisse in der Welt, über Fragen des langfristigen Überlebens der Menschheit, d.h. über Klimawandel, über Energiepolitik, über Menschenrechte etc. spielt in der Bildungsarbeit keine große Rolle. Das ist aus mindestens zwei Gründen sehr bedauerlich. Zum einen fehlt vielen Kindern und Jugendlichen damit eine Unterstützung in der Orientierung hinsichtlich politischer Prozesse.Und zum anderen ist die nachwachsende Generation faktisch aus dem Prozess der öffentlichen Meinungsbildung ausgeschlossen. Es ist gut, dass sich über dieses Defizit in der kulturellen Bildung allmählich ein Problembewusstsein entwickelt. Denn es ist keineswegs so, dass sich Kinder und Jugendliche nicht für globale Fragen interessieren, im Gegenteil: Gerade Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund sind weltoffen, die Krisen in der Welt sind ganz nah an ihrem Erfahrungsbereich und an dem ihrer Freundinnen und Freunde. Finden sie kompetente und ernsthafte Diskussionspartner_innen, zeigt sich, wie sehr die Geschehnisse, die über die Nachrichtensendungen in ihr Leben dringen, sie beschäftigen – und wie sehr ihnen an einer Beteiligung am politischen Diskurs liegt. Allerdings würde sie die Fragen, die sie umtreiben, niemals unter die Rubrik „Politik“ fassen. Sie sehen – völlig zu recht – die Themen Gerechtigkeit, Gleichberechtigung und Gewalt.

Der norwegische Friedensforscher Johan Galtung hat uns gelehrt zu entdecken, dass und wie scheinbare selbstverständliche kulturelle Praxen Ungerechtigkeiten, Ausgrenzungen und Gewalt legitimieren. Er hat dafür den Begriff der „kulturellen Gewalt“ geprägt. Diesen Begriff in seiner Bedeutung für die kulturelle Bildung zu erfassen und für die Bildungsarbeit fruchtbar zu machen, diese Aufgabe steht noch an.
Renate Grasse, Arbeitsgemeinschaft Friedenspädagogik, März 2012